"Wie ich loskomme von meinen hundert Hemden" – ein Lebensrückblick

„Lieber Herr Bahr“, wurde ich gefragt, „könnten Sie für uns einen Erntedank-Artikel schreiben? Nicht die klassischen Erntethemen, sondern die Gedanken eines älteren Menschen in einer Art Lebensrückblick.“

Lebens-Rückblick? Erntedank? Ich, der ewig Undankbare? „Wir werden milder“, schreibt ein 60jähriger Freund aus Hamburg mir. Ich nicht. Ich werde, je älter, desto zorniger darüber, dass alles immer so weitergeht. Wir seien in einem gnadenlosen Krieg gegen den Terrorismus, beschwören die Minister Schily und Beckstein uns, unisono mit den Stimmen aus Washington. Nicht die Armut sei die weltweite Bedrohung, meint unser Mann in Rom, sondern „der Relativismus“. Von Sachzwängen ist zu hören, weil die Fantasie für eine kühne Politik der Aussöhnung fehlt.

Ich weiß ja, ein Volk, das solche Rennfahrer, solche Fußballer und solche Aufsichtsräte hat wie wir, kann auf seine Universitäten und seine Kirchen ruhig verzichten. Dankbar sollte ich sein, Erntedank. Geh in dich, fang noch mal von vorne an.

Die Angst, alles zu verlieren, steckte in den Knochen

 

1945. Ich, ein Flüchtlingskind aus Hinterpommern. Meine Schulkameraden packten Frühstücksbrötchen mit Wurst aus, ich mein Graubrot mit ekliger Fischpaste. Urlaubsreisen und Taschengeld waren Fremdworte aus einer anderen Welt.

Geld? Wir hatten keins. Aber meine Mutter machte etwas daraus. Wir hatten buchstäblich kaum etwas zu beißen, aber jeder wurde sofort zu Tisch gebeten, der ins Haus schneite. Und immer ging es hoch her mit Witz und Ironie, sobald das „Kommherrjesus sei unser Gast“ herunter gesprochen war. Nun aber, ich muss es sagen: Das winzige Flüchtlingszimmer in Eckernförde erzeugte eine lebenslange Begierde. Die Sucht nach weiten, pompösen Zimmerfluchten, nach Heraustretenkönnen auf die große Veranda. Den Sparsamkeits-Wahn von Mutter und Vater parierte ich mit Großmannssucht. Und – mit der Unfähigkeit, dankbar zu sein. Das Flüchtlingszimmer in Eckernförde wurde mit Hosen und Hemden buchstäblich zugestopft. Ich konnte kein Hemd weggeben, auch wenn es mir längst nicht mehr passte. Die Angst, alles zu verlieren, steckte mir in den Knochen.

Nichts kann man kaufen, was wirklich wichtig ist

Heute weiß ich natürlich: Nichts kann man kaufen von dem, was mein Leben wirklich bestimmt, die Liebe nicht, das Vertrauen zu anderen nicht. Und auch den Trost nicht, wenn ich mich wieder mal vaterseelenallein fühle. Dann kommt es darauf an, all dies zu entdecken, um mich herum. Diesen Blick der Güte auf mich, die Freundschaft mit ein paar Menschen, an denen mir viel liegt. „So ist das mit dem Glück im Leben“, hat ein Kollege neulich gesagt. „Es fällt zu. Es liegt in den kleinen und großen Dingen. Ein Geldstück in der Not, eine liebevolle Umarmung, eine abgeschlossene Arbeit, ein unerwarteter Anruf, ein ermutigender ärztlicher Befund.“

Ein Geldstück in der Not? Also doch, das Geld. Verschämt zwar erwähnt es der Kollege, als ob er ganz von Luft und Liebe lebte. So bescheiden bin ich nicht, will ich nicht sein. Ich mag Geld. Ich freue mich riesig, wenn ich unerwartet eine Rückzahlung bekommen habe. Und dann – lege ich das Geld nicht zurück, bringe es nicht aufs Konto. Nein, ich werde spendabel in diesem Moment, übermütig fast.

Das Leben in Fülle

Was wäre das für ein Leben, das sich nicht verschwendet, höre ich meinen Vater reden. Das Knickerige verachtete er. Die Kleingläubigen in der Verwandtschaft taten ihm leid. „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben“, das war der Jesus-Satz, bei dem er sich begeistern konnte. Und füllte den Teller zum dritten Mal mit roter Grütze auf.

Die Fülle – am Schluss zeigte sie sich ihm anders. Ich sehe ihn im Altersheim, auf zwanzig Quadratmetern. Geht’s dir gut, frage ich vorsichtig. Hier, sieh mal, lacht er, diese interessante Postkarte kam letzte Woche. Die Postkarte ist potthässlich. Aber er findet sie entschlossen gut. Die jungen Pflegerinnen kommen gerne in sein Zimmer. Endlich einer, der nicht bitter ist, nicht so selbstzärtlich larmoyant. Eine Motte flattert eben durchs kleine Zimmer. Ich springe auf, will sie wegklatschen. Nein, nein, nicht doch, ruft er, das ist doch meine Freundin, seit vier Tagen schon. Gegen fünf, wenn die Abendsonne hier reinscheint, dann schimmern ihre Flügel so silbrig. Ein Ballett, lacht er, mein Ballett. Er ist lebens-dankbar, denke ich. Und du? Ich mache den Versuch, ein bisschen davon nachzumachen, wieder einmal. Ich gebe all die Bücher weg, die ich in den letzten Jahren nicht mehr aufgeblättert habe. Und all die Hemden, Hosen, Mäntel, von denen ich glaubte, ich könnte mich von ihnen nicht trennen.

Sorget nicht für Morgen

Und all die vielen Menschen, die früher einmal meinen Weg gekreuzt haben. Nein, ich lasse die alten Zeiten auf sich beruhen, verabschiede mich von vielen dieser Bekanntschaften, trage nur die wenigen ins neue Adressbuch ein, die mir heute etwas bedeuten. Ich atme auf. Die Angst fällt ab, ich stünde ohne die vielen Bekannten nackt da. Sich absichern, in Menschen, die festgehalten werden, in Sachen, die mich versorgen sollen?

Sorget nicht für den morgigen Tag, höre ich Jesus sagen. Er sagt es lächelnd, wie zu einem Kind, das nicht erwachsen werden will. „Ich bring alles wieder“ heißt es im Kirchenlied. Nur anders, ganz anders, als du denkst.

Hans-Eckehard Bahr
Hans-Eckehard Bahr ist emeritierter Professor der Evangelischen Theologie in Bochum und hat mehrere Bücher zu gesellschaftspolitischen Themen veröffentlicht.
aus: Magazin Andere Zeiten 3/2005, www.anderezeiten.de

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Text: Hans-Eckehard Bahr
In: Pfarrbriefservice.de