"Wir gehen den Weg gemeinsam"

In ihrer Familie fand Bettina Burgsmüller Halt für ihren Entschluss, mit dem Trinken aufzuhören

Mein Name ist Bettina Burgsmüller. Ich bin 47 Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Söhnen, 17 und 27 Jahre. Ich bin Alkoholikerin und lebe nun seit rund 13 Jahren abstinent.

Rückblickend stellte sich mir die Frage, welche Familienmitglieder sowohl zur Zeit meines „aktiven“ Trinkens als auch später, zu Beginn meiner Abstinenz - bis heute - eine wichtige Rolle gespielt haben. Ich möchte mich, obwohl es noch andere Beteiligte gab, auf folgenden Personenkreis beschränken:

- mein Mann Detlef
- meine Söhne Jan und Richard
- meine Mutter
- meine Schwiegereltern und
- meine Schwester Katja.

Während der Zeit meines abhängigen Trinkens diente mir mein Mann häufig als Rechtfertigung für mein Trinkverhalten. Ein Beispiel für meine damaligen Gedanken ist: “Wenn er nicht so kalt zu mir wäre, müsste ich nicht trinken!“ In dieser Zeit zog ich mich sehr in mich zurück und vermied auch Gespräche mit ihm. Diese Taktik löste einerseits bei ihm große Besorgnis über meine psychische Gesundheit aus, verhinderte auf der anderen Seite aber auch, dass ihm meine häufig verwaschene Sprache auffiel. Nur ganz selten forderte er mich sanft auf, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich glaube, ich habe ihm in dieser Zeit sehr viel Angst und Sorge bereitet.

Meinen großen Sohn Jan, der 13 bis 14 Jahre alt war, habe ich in dieser Zeit sehr oft missbraucht, indem ich ihm die Aufsicht über den kleinen Bruder Richard anvertraute und ihm darüber hinaus Haushaltspflichten übertrug, um meine eigene Handlungsunfähigkeit zu verdecken. Für diese Leistungen machte ich ihm Versprechungen, die ich nur in den seltensten Fällen einlöste.

Für meinen kleinen Sohn Richard, 3 bis 4 Jahre alt, war ich praktisch nicht da. Meine Verantwortung für ihn konnte ich immer erfolgreich an meinen großen Sohn oder meine Schwiegereltern abgeben. Ich habe für ihn als Mutter nur sehr notdürftig funktioniert.

Diese drei mir liebsten Menschen habe ich in dieser Zeit als ausgesprochen lästig empfunden, denn sie hinderten mich allein durch ihre Existenz allzu oft am Trinken!

Meine Schwiegereltern hatten damals immer ein offenes Ohr, wenn ich mich über ihren Sohn, meinen Mann, beklagte, und waren bereit, mich zu bedauern. Außerdem haben sie sich nur ganz selten geweigert, die Kinder zu beaufsichtigen, wenn ich sie darum bat.

Auch meine Mutter hatte immer offene Ohren und ein großes Herz für meine Sorgen. Sie war gern bereit, mich zu trösten und versuchte häufig, mir mit kleinen Aufmerksamkeiten eine Freude zu machen und so Licht in meinen grauen Alltag zu bringen.

Meiner Schwester gegenüber war ich eher zurückhaltend, denn ich konnte trotz allem noch ihren Argwohn wahrnehmen. Sie war, glaube ich, die einzige, die mich ziemlich klar sah. Eine Reaktion erfolgte aber nicht.

Ich denke, es wird deutlich, dass ich mein abhängiges Trinken recht gut durchorganisiert hatte. Es gelang mir, alle geschickt einzuspannen und von meinem eigentlichen Problem abzulenken. Alle meine Lieben waren bestrebt, unser Familiensystem weiter aufrecht zu erhalten, obwohl ich mit meinen Aufgaben darin ausfiel.

In einigen wenigen klaren Augenblicken konnte ich all das auch erkennen und ich fühlte mich schuldig – ein schlechter Mensch! Da ich dieses Gefühl aber nicht aushalten konnte, trank ich weiter.

Heute kann ich sagen, dass ich in der akuten Phase meiner Abhängigkeitserkrankung sämtliche Familienmitglieder missbraucht und/oder verletzt habe:

- meinen Mann benutzte ich als Alibi
- meinen großen Sohn missbrauchte ich, um meine Defizite aufzufangen, um ihm Verantwortung zu übertragen, die nicht seine, sondern meine war
- meinen kleinen Sohn vernachlässigte ich, weil ich in einer für seine Entwicklung wichtigen Zeit nicht für ihn da war
- meine Schwiegereltern benutzte ich als Kummerkasten und zur Kinderbetreuung
- meine Mutter missbrauchte ich, weil ich ihre Liebe zu mir ausnutzte
- letztendlich verletzte ich auch meine Schwester, indem ich sie mied, was für sie unverständlich sein musste.

1993 hatte der Alkohol mich dann auch körperlich so krank gemacht, dass ich ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen musste, um nicht zu sterben. Erst an diesem Punkt habe ich mich für Leben, und zwar ohne Alkohol entschieden.

Hilfe auf dem Weg in die Abstinenz war sicherlich eine sofortige achtwöchige stationäre Therapie, die mir wichtige Impulse gegeben hat, mit denen ich noch heute an Veränderungen in meinem Leben arbeiten kann. Eine sich anschließende ambulante Psychotherapie hat mich bei diesen Veränderungen begleitet. Sofort im Anschluss an meine stationäre Therapie habe ich eine Kreuzbund-Gruppe aufgesucht, in der es mir bis heute möglich ist, über Angst, Not und Trauer, aber auch große Freude und glückliche Augenblicke zu sprechen. Diese Öffnung ist Voraussetzung und fester Bestandteil für mein bis heute abstinentes Leben.

Wo ist meine Familie auf diesem Weg geblieben?

Allein die Tatsache, dass es sie noch gab, als ein soziales Gefüge, in das ich zurückkehren durfte, hat mir den Weg in ein abstinentes Leben erleichtert.

Mein geliebter Mann hat mich in meinem ersten Jahr in die Kreuzbund-Gruppe begleitet, zum einen, um mich zu unterstützen, aber auch um selbst besser verstehen zu können. Bis heute wäre mir ein Engagement für den Kreuzbund ohne den starken Mann an meiner Seite nicht möglich!

Mein großer Sohn Jan hat, das kann ich spüren, wieder Vertrauen zu mir gefasst und seinem kleinen Bruder gegenüber eine angemessene Rolle gefunden.

Mein kleiner Sohn Richard ist trotz der Defizite in seinem 3. und 4. Lebensjahr zu einem verantwortungsbewussten, kritischen jungen Mann herangewachsen, der mit Stolz über mich, seine Mutter sagt: „Sie hat mir Wege gezeigt, schwierige Situationen ohne Einsatz von Drogen zu meistern!“.

Meine Schwiegereltern haben in der ersten Zeit meiner Abstinenz eher mit Leugnung reagiert, mit Sätzen wie: „Das kannst du trinken, da sind nur 3% Alkohol drin!“. Es hat länger gedauert, bis sie die Konsequenz akzeptieren konnten. Dennoch haben sie mich vorbehaltlos bei meinem Genesungsprozess unterstützt.

Meine Mutter hat zu Beginn meiner stationären Therapie einen entscheidenden Satz gesagt: „Bevor Du mir noch einmal so viel Leid antust, möchte ich lieber, dass Du stirbst!“. Dieser Satz ist sicherlich unter vielen Blickwinkeln zu betrachten, aber mir wurde zu diesem Zeitpunkt klar: Sie ist am Ende. Und sie beginnt, an sich zu denken. Das hat meiner Motivation einen ganz deutlichen Anschub gegeben. Darüber hinaus hat meine Mutter an Therapiegesprächen mit Angehörigen und Abhängigen während meines Klinikaufenthaltes teilgenommen. Seither konnten wir viel an unserer Beziehung und Rollenzuweisung ändern.

Von meiner Schwester habe ich vom ersten Tag meiner Abstinenz seelischen Beistand und Unterstützung erhalten. Heute begegnet sie mir mit Anerkennung.

Meine Familie hat sicherlich eine wichtige Funktion während meiner Trinkzeit gehabt. Sie hat mich aber auch, anfänglich ganz vorsichtig, aber liebevoll in die Abstinenz begleitet. Dafür, dass ich bis heute ihre Unterstützung habe, bin ich von Herzen dankbar.

Bettina Burgsmüller ist stellvertretende Bundesvorsitzende des Kreuzbundes
Quelle: Ausgabe 5/2006 des WEGGEFÄHRTE, der bundesweiten Verbandszeitschrift des Kreuzbundes

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Das Schwerpunktthema für Februar 2010

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Text: Bettina Burgsmüller
In: Pfarrbriefservice.de