„Wo warst du Gott?“

Gewalt, Krieg, Krankheit, Schmerzen, Leid und Not. Warum lässt Gott das zu? Will oder kann er nicht anders? Die quälende Frage nach der Güte und Gerechtigkeit des Schöpfers ist eine Operation am offenen Herzen des Christentums.

[…] An der Gerechtigkeit und Güte Gottes, an seinem Wesen und Wollen scheuern sich Christen seit jeher wund. Sie reiben sich am schreienden Widerspruch zwischen dem Leid der Welt und jenen Eigenschaften, die untrennbar zum Wesen Gottes gehören: Machtfülle, Weisheit, Güte, Vollkommenheit. Aber diese Attribute passen nicht zum Wesen und Zustand seiner Schöpfung. Zumindest werfen sie die Frage auf, warum das Leid ein Teil der Schöpfung ist und sein darf.

Unter den Tisch kehren, vertuschen oder einfach leugnen lässt sich der Widerspruch nicht. Daher versenken sich Theologen und Philosophen aller Zeiten in die Rätselhaftigkeit Gottes, um das scheinbar Krumme wieder grade zu rücken. Mit naiver Frömmigkeit und filigraner Betrachtung, mit raffinierten Spitzfindigkeiten, kühnen Spekulationen und rhetorischen Klimmzügen versuchen sie, das Leid der Welt als Preis der menschlichen Freiheit, als Prüfung, Erziehungsmaßnahme, Strafaktion oder Tugendansporn zu erklären. […]

Leidend, hilflos, mitgefangen - Gottesdeutungen

Die namenlosen Schrecken des 20. Jahrhunderts zerstören das traditionelle Bild des allgütigen, allmächtigen, allweisen Gottes ein für alle Mal. Es verbrennt in den Feueröfen von Auschwitz, krepiert auf den Schlachtfeldern zweier Weltkriege, verdampft im atomaren Inferno von Hiroshima und Nagasaki. Für viele Gläubige, für fromme Juden und nicht minder fromme Christen gibt es angesichts dieser Katastrophen nur noch einen Schluss: Ein Gott, der solche Gräuel zulässt, ist entweder sadistisch, launisch, bösartig, heimtückisch oder schlicht und einfach eine Illusion. Wer diesen Weg der radikalen Abkehr nicht gehen möchte und nicht gehen kann, hat letztlich nur eine Chance: Den Glauben an einen leidenden, mitleidenden, trauernden Gott. Den Glauben an einen Gott, der in seiner Menschwerdung das Leid nicht aufhebt, sondern mit uns trägt, der die gefallene Schöpfung nicht einfach ein zweites Mal auslöscht und stattdessen den für beide Seiten mühevollen, langsamen Weg der Heilung wählt.

Erfahrungswirklichkeit und Gedankengymnastik

Ob man nun das Nichthandeln Gottes als erbarmendes Mitleiden, als Solidarität mit den Geschundenen und Ohnmächtigen interpretiert oder als freiwilligen Verzicht auf seine Allmacht versteht, ein Problem bleibt immer: Gott ist keine sichtbare, greifbare, objektiv feststellbare Tatsache. Gott ist ein Wunsch, ein Gedanke, ein Konstrukt, eine Überzeugung, eine subjektive Glaubenswahrheit. Was wir über Gott wissen, ist das Resultat Jahrtausende alter Spekulationen, Gedanken, Meinungen und Vorstellungen. Das Leid in der Welt hingegen ist sehr konkret. Es ist mit Händen zu greifen, mit allen Sinnen erfahrbar. Es ist zu hören, zu sehen, zu riechen, zu spüren. Und es ist allgegenwärtig. Mit theologischer und philosophischer Gedankengymnastik kommt man gegen die Realität dieses Leidens nicht an. Dazu braucht es eine andere Gewissheit: Die gläubige Erfahrung der lebendigen Gegenwart Gottes. Eines Gottes, der es trotz allem, was scheinbar gegen ihn spricht, unendlich gut mit uns meint.

Autor: Simon Demmelhuber
Quelle: radio Wissen, Bayern 2, www.br.de. In: Pfarrbriefservice.de

(weitere Informationen zum Thema: http://www.br.de/radio/bayern2/wissen/radiowissen/religion/theodizee-frage-gott-104.htm

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Text: Simon Demmelhuber, www.br.de
In: Pfarrbriefservice.de