"Worauf es ankommt, wenn Christus kommt"

Am Ende wird allein die Frage entscheidend sein, was wir in Liebe für den Nächsten getan oder nicht getan haben

Wer das Ausmaß der Not sieht, die uns in den hiesigen Flüchtlingslagern begegnet, wer das Tausendfache Elend von Flucht und Vertreibung an diesen Orten spürt, der hört die Worte des Evangeliums anders, als er sie je zuvor gehört hat: „Ich war hungrig, ich war durstig, ich war fremd, obdachlos, nackt und krank – und ihr habt mir zu essen und zu trinken gegeben, ihr habt mich aufgenommen, ihr habt mich bekleidet und meine Wunden geheilt.“ (s. Matthäus 25,31-40). Als der Herr seinen Jüngern die Rede hielt, die wir eben im Evangelium hörten, hat er auch die Menschen im Blick gehabt, denen wir in diesen Tagen in den Flüchtlingslagern begegnen: Millionen von Menschen, die ihrer Heimat beraubt wurden und die nun auf eine neue und sichere Zukunft hoffen, Menschen, die ihre Angehörigen im Krieg verloren haben, Menschen mit ihren äußeren und inneren Verwundungen, Menschen, die ein Dach suchen – für Leib und Seele.

Im Auftrag unserer Kirchen suchen wir in diesen Tagen die Begegnung mit diesen Menschen, um ein Zeichen der Verbundenheit und Hilfsbereitschaft zu setzen. Wir möchten uns über Möglichkeiten konkreter Hilfe informieren lassen und selbst dazu einen Beitrag leisten. Fragen und Probleme, die uns zu Hause oft so hartnäckig umtreiben, treten hier zurück. Angesichts der unfassbaren Not von Millionen von Menschen in den Ländern hier verlieren sie ihr Gewicht und relativieren sich. Vieles mag ja wichtig sein, aber am Ende aller Tage und am Ende eines jeden Lebens wird allein die Frage entscheidend sein, was wir in Liebe für den Nächsten getan oder nicht getan haben. In dieser Liebe geht es nicht um Ansehen oder Lohn, sondern einzig und allein um den Nächsten in Not und Elend. In diesem Evangelium sind die Geringsten der Ort der Christusbegegnung: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Der Menschensohn in seiner Herrlichkeit identifiziert sich mit den Notleidenden und Hilfsbedürftigen. Das, was wir für sie tun, ist Christusdienst. Und wir tun zugleich das, was Jesus selber getan hat, als er sich den Ausgegrenzten und Ausgestoßenen zuwandte. Zu uns würde Jesus heute sagen: Ich war einer von Millionen Flüchtlingen aus Syrien und ihr habt mich aufgenommen. Ich habe alles verloren, ich war verzweifelt und hoffnungslos und ihr habt mir eine Chance gegeben. Der Notleidende wird also für uns wie ein Sakrament der Christus- und Gottesbegegnung.

Im Evangelium wird uns unmissverständlich gesagt: Die Liebe genügt. Wer sich in ihr bewährt, ist gerettet. Es gibt unendlich viele Werke, die aus christlichem Glauben getan werden, die aus ihm heraus entstanden und ihm zugeordnet sind: Werke der Gottesverehrung, Feier des Gottesdienstes, Verkündigung des Wortes. In dem Maße, als die Kirche sich ausdehnte, Weltkirche wurde - eine weltumspannende Institution mit ihren eigenen Strukturen und Ämtern – entwickelte sich eine Glaubenswissenschaft, eine christliche Kultur und Zivilisation, die ganze Völker und Kontinente prägte. So wurde sie die Kirche unserer Tage, der ein Mitspracherecht eingeräumt ist in allen die menschliche Gesellschaft und den Menschen schlechthin angehenden Fragen.

In vielen Werken sehen wir engagierte Christen am Werk, die Liebe aber, die sich in Werken der Barmherzigkeit erweist, behauptet ihren Vorrang. Wo immer in der Welt gläubige Christen engagiert sind und durch ihre Werke den Tod und die Auferstehung des Herrn künden, um den Menschen unserer Tage die erbarmende Liebe unseres Gottes zu bezeugen, sie teilhaben zu lassen an dem von ihnen erfahrenen Glück ihrer Gotteskindschaft, ist Glaube lebendig und baut Kirche auf. Und die Kirche ist dort krank, wo es ihr in ihren Aktionen und Werken an dieser Liebe fehlt! Die unmittelbaren Werke der Liebe, die leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit sind eindeutig und direkt – mit weitaus geringerer Gefahr der Selbsttäuschung als die vielen theoretisierenden Resolutionen unserer Tage.

Vor einigen Wochen hat Papst Franziskus ein inzwischen berühmt gewordenes Interview gegeben, in dem er die Kirche mahnte, Wunden zu heilen. In einem Land wie diesem, wo Menschen, vom Krieg gezeichnet, Zuflucht gesucht haben, gewinnen seine Worte mehr als anderswo Gewicht und Bedeutung: „Ich sehe ganz klar, dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen. Die Wunden heilen, die Wunden heilen... Man muss ganz unten anfangen.“

Predigt von Bischof Norbert Trelle beim ökumenischen Gottesdienst während der Jordanienreise zu syrischen Flüchtlingen der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland am 3.11.2013, www.dbk.de. In: Pfarrbriefservice.de

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Text: Bischof Norbert Trelle
In: Pfarrbriefservice.de