Zeit ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Zeit!

Über Zeit und Zeitgefühl in Afrika

„Europäer haben Uhren, Afrikaner haben Zeit“, besagt ein afrikanisches Sprichwort und bringt so das völlig unterschiedlich ausgeprägte Zeitgefühl von Menschen aus zwei Kulturkreisen auf den Punkt. Obwohl der Tag hier wie dort 24 Stunden hat, unterscheidet sich das afrikanische Zeitgefühl wesentlich von dem der Deutschen. Ganz besonders deutlich wurde mir das, als ich vor sechs Jahren zum ersten Mal in einer Münchner U-Bahn-Station stand: Die Menschen rannten über die Rolltreppen, spurteten zum nächsten Zug, hetzten durch die Gänge. Ich war völlig schockiert und dachte: „Was ist da los? Sind die alle verrückt? Doch ein paar Monate später rannte auch ich …

Immer mit der Ruhe

Sehr rasch habe ich gelernt: Die Deutschen sind unglaublich schnell und durchorganisiert. Jeder Tag ist vom Aufstehen bis zum Abendessen systematisch durchgeplant. Zwei Minuten können einen gewaltigen Unterschied machen. Ganz anders die Menschen in Afrika. Sie haben ein flexibles, elastisches, eher subjektives Zeitgefühl. Zeit wird nicht wissenschaftlich exakt vermessen, sondern intuitiv empfunden. Die Zeit ist für den Menschen da, und nicht der Mensch für die Zeit. Die Zeit ist ein Diener des Menschen und nicht der Mensch ein Sklave der Zeit. Nicht umsonst gehört „pole pole“ zu den ersten Wendungen, die ein Europäer in Tansania kennenlernt Diese Worte bedeuten so viel wie „Immer mit der Ruhe, bloß keine Hektik“ und bilden gewissermaßen eine Lebenseinstellung ab. Wenn man dies missachtet und andere unter Zeitdruck setzt, kann das rasch zu Irritationen, ja ernsthaften Spannungen führen.

Vor allem die Menschen, die in den Buschdörfern leben und auf den Feldern arbeiten, haben kein Zeitkonzept Sie stehen mit der Sonne auf und arbeiten dann, wenn es die Temperaturen zulassen. Man denkt hier nicht in Stunden, sondern orientiert sich am Lauf der Sonne. Selbst junge Menschen haben hier oft keine Vorstellung von Zeit. Es kann durchaus passieren, dass man auf die Frage, wie lange man zu Fuß von A nach B braucht, die Antwort .“Zwei Stunden“ erhält, obwohl es vielleicht nur 20 Minuten sind.

Verspätungen? Kein Problem!

In den Städten, in Industrie und Verwaltung ist der Umgang mit Zeit etwas systematischer. Offiziell soll der Schulunterricht um 7.30 Uhr, die Arbeit in Fabriken und Büros um 8 Uhr beginnen. Die meisten Arbeitnehmer versuchen zwar, sich danach zu richten, doch Verspätungen von einer Stunde sind völlig normal. Für einen Europäer mag das schockierend und nervenaufreibend sein, doch in Afrika ist das eben so. Auch im privaten Bereich muss ein Deutscher in Afrika umdenken. Zu einer Einladung bei Freunden kommen die Gäste etwa eine Stunde später. Ein Afrikaner geht dann los, wenn er fertig ist und die Umstände es erlauben. Umgekehrt sollte man als Gastgeber eine Pufferzeit von etwa 60 Minuten einkalkulieren. Ähnliches gilt auch beim Besuch von Gottesdiensten. So ist zu Beginn der Messe vielleicht die Hälfte der Gottesdienst-Besucher anwesend; erst ab dem Gloria beginnt die Kirche sich zu füllen.

Pünktlich zur Beerdigung

Doch es gibt auch Anlässe, zu denen ein Afrikaner immer pünktlich ist, und zwar dann, wenn er zum Flughafen muss, wenn er eine Verabredung mit einem Höhergestellten – zum Beispiel einem Regierungsbeamten oder dem Bischof – hat (obwohl sie selber kaum pünktlich auftauchen), und wenn er auf eine Beerdigung geht. Im letztgenannten Fall hat das viel mit Aberglauben zu tun. Durch pünktliches Erscheinen erweist man dem Verstorbenen Ehre und besänftigt die Geister, damit kein Unheil über die Lebenden kommt. Beim Beerdigungsakt selbst verharren die Trauergäste dann absolut bewegungslos – die Weit steht für einen Augenblick lang still.

Das eher intuitive Zeitgefühl der Afrikaner hat seine Ursache in Kultur und Mentalität. Die Menschen leben im Hier und Jetzt, ihr Zeitgefühl orientiert sich an der Gegenwart. Es gehört zur afrikanischen Kultur, nicht weit vorauszuplanen. Manchmal gibt ein Afrikaner alles Geld aus, das er hat. Er verbraucht seine Vorräte, ohne dabei an die nächsten Monate zu denken.

Gesunde Balance

Unter dem Einfluss der europäischen Lebensweise hat sich meine Zeitwahrnehmung stark verändert. Bereits in Tansania habe ich im Kloster einen strukturierten Tagesablauf praktiziert und festgestellt, dass ich einfach mehr erreiche, wenn ich meine Zeit sinnvoll plane. Was wir Afrikaner also von den Deutschen lernen können, ist deren Effizienz. Nur mit einem vernünftigen Zeitmanagement gibt es ein Vorankommen. Doch es gibt Grenzen. Die sind dann erreicht, wenn der Mensch zum Sklaven der Zeit wird, wenn Zeit zu einem Korsett wird, das den Menschen einengt, niederdrückt und kaputt macht. Dass man das auf Dauer nicht aushält, lässt sich an der wachsenden Zahl derer ablesen, die am Termindruck zerbrechen, Herzattacken erleiden, an Burnout erkranken.

Hier gilt es, eine gesunde Balance zwischen dem Streben nach Effektivität und Zeit für den Menschen zu finden. Ich habe erlebt, dass in Deutschland ein Fremder auf seine Frage nach dem Weg zur Antwort bekam: „Ich habe keine Zeit!“. Für einen Afrikaner ist das ein Schlag ins Gesicht; er würde den Fremden sogar noch ein Stück begleiten, um sicherzustellen, dass er den Weg findet. Diesen Blick auf den Menschen, die Einsicht, dass der einzelne Mensch im Hier und Jetzt wichtiger ist als jeder Zeitplan, sollten sich die Europäer von den Menschen in Afrika abschauen. Im Zentrum all unserer Bemühungen sollte immer der Mensch stehen. Denn ohne den Menschen hat Zeit keine Bedeutung.

Autor: Pater Christian Temu OSB
Quelle: Münsterschwarzacher Ruf in die Zeit Nr. 1/14, Münsterschwarzach : Februar 2014

 

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Text: Pater Christian Temu OSB
In: Pfarrbriefservice.de