"Mein Bruder Michael"
Frank Hübner erzählt, wie er seinem Bruder aus der Alkoholsucht helfen konnte
Freitags im Jahr 2000 so gegen 21 Uhr: ein schöner Spätsommerabend. Im Fernseher läuft der Freitagskrimi, es geht gerade spannend zu. Plötzlich klingelt mein Telefon. Ausgerechnet jetzt, denke ich, und lasse es noch zweimal klingeln, dann gehe ich ran: „Hübner. Guten Abend“, melde ich mich. „Hier auch“, meldet sich eine leise Stimme am anderen Ende. Es ist mein jüngster Bruder Michael. Danach eine kurze Weile Stille. „Was ist denn los?“, frage ich etwas aufgeregt, nichts Gutes ahnend. „Steht Dein Angebot noch?“, fragt mein Bruder zögerlich. Mir ist sofort klar, er meint mein Angebot, in die Kreuzbund-Gruppe zu kommen, wann immer er glaubt, es müsse sein. „Klar steht das Angebot, immer montags 19 Uhr. Wo, weißt du ja. Aber wieso jetzt, ist etwas passiert? Oder hattest du eine Erleuchtung?“ – „Heute gegen 17 Uhr hatte ich einen Autounfall, außer ein paar Kratzern bei mir ist niemandem etwas geschehen, war allein im Auto, aber Totalschaden.“ Ich fragte: „Und wieder mal Alkohol im Spiel, oder?“ – „Klar! Deshalb rufe ich ja an.“ – „Gut, dass du anrufst. Wenn es dir ernst ist, kriegen wir das schon irgendwie hin. Am besten ist es, wir treffen uns am Sonntag erstmal bei dir, um das Ganze auch mit Gabi (seiner Partnerin) zu besprechen.“ – „Ja, das wäre uns recht, denn ohne Gabis Zureden hätte ich sicher nicht angerufen.“ – „Na dann, bis Sonntag.“
Ich legte auf, rief meine Frau, erzählte, was geschehen ist, und war sehr, sehr froh, dass mein Bruder den wahrscheinlich richtigen Weg gehen wollte. In diesem Moment ging es mir einfach gut. Hier muss ich allerdings etwas ausholen und die Geschichte von Anfang an erzählen, damit man sie auch versteht.
Ich selber habe im Alter von 34 Jahren, 1990, mit Hilfe einer vierwöchigen ambulanten Therapie mit dem „Saufen“ aufgehört. Jedoch brauchte ich noch ca. drei Jahre, um zu begreifen, dass das der einzig richtige Weg für mich ist und ich nun nie mehr Alkohol trinken kann und dieses auch nicht mehr will. Erst danach stellte sich bei mir das Gefühl einer zufriedenen Abstinenz ein und ich hatte den Kopf wieder frei für die Dinge, die mich umgaben. Nun konzentrierte ich mich auf meine Arbeit in der Selbsthilfegruppe, schnell wurde ich zum Leiter der Gruppe.
Nun wieder mit einem klaren Blick durchs Leben zu gehen, war schön, aber manchmal auch belastend. So stellte ich bei Familienfeiern immer wieder fest, dass mein zehn Jahre jüngerer Bruder Michael (damals 24 Jahre alt) sehr viel Alkohol trank. Das machte mir Angst. Jedoch sprach ich mit niemandem darüber, die Sorge um ihn war vorerst nur in mir.
Im Laufe der Zeit wurde mir klar, dass ich am Verhalten meines Bruders meinen eigenen Lebensweg wie in einem Film noch einmal ablaufen sah. Selbstverständlich erhöhte dieser Eindruck bei mir das Verlangen, ihm helfen und vor dem bewahren zu müssen, was ich durchmachen musste. So versuchte ich in einem Vieraugengespräch, ihm meine Hilfe anzubieten. Das endete natürlich mit einer klaren Abfuhr meines Bruders, der das Ganze verniedlichte und nichts davon wissen wollte, dass er das gleiche Problem hat wie ich. Das tat weh!
Die Zeit verging. Der Weg meines Bruders setzte sich unweigerlich in die von mir befürchtete Richtung fort, die Exzesse in Verbindung mit Kontrollverlusten nahmen zu. Noch viele Male bot ich Hilfe an, immer mit dem Ergebnis des ersten Angebotes. „So weit wie du, bin ich noch lange nicht!“, sagte er. Auch das tat weh!
Ich empfand es als sehr schwer, dass ich in der Selbsthilfegruppe so vielen Menschen helfen konnte, bei meinem eigenen Bruder aber keinen Millimeter weiter kam. Es brauchte schon sehr viele Gespräche darüber in der Gruppe, aber auch Einzelgespräche mit einer Psychologin, um zu begreifen, dass man niemandem helfen kann, der sich nicht helfen lassen will. Das Ganze dann noch innerhalb der Familie war durch die große emotionale Nähe ungleich schwerer. Die Einsicht musste von meinem Bruder selbst kommen, erst dann war Hilfe möglich.
Nach mehreren unerfreulichen Ereignissen bemerkten auch meine anderen Geschwister, meine Eltern und die Partnerin meines Bruders, dass etwas mit seinem Trinkverhalten nicht stimmte. Auch sie sahen Parallelen zu meiner Vergangenheit. Na endlich, dachte ich, und war erleichtert! Wir redeten gemeinsam darüber, was man tun könnte. Das freute mich, weil ich nun nicht mehr allein stand mit meiner Meinung.
Die Freude darüber war jedoch von kurzer Dauer, denn schnell merkte ich, dass der Rest der Familie der Ansicht war, ich müsse etwas unternehmen. Schließlich musste ich es ja wissen, ich hatte es selbst erlebt und meinen Weg gefunden. Das machte mir dann schon etwas Angst, denn der Erwartungsdruck war groß.
Erneut unternahm ich Versuche, meinem Bruder die Sinne zu schärfen und ihn zu animieren, etwas zu tun. Ergebnis: negativ! Die ständigen Nachfragen meiner Familie und seiner Partnerin, wieso ich nicht in der Lage bin, ihm zu helfen, frustrierten mich zutiefst. Obwohl ich wusste, dass es so nicht gehen kann, plagten mich Selbstzweifel, die ich mir aber dank der Gruppe und meiner Frau von der Seele reden konnte. Das war in dieser Situation äußerst wichtig und unerlässlich. So blieb alles beim Alten. Ich wusste, ich kann nichts tun, wenn er nicht will, aber schuld bin ich nicht, auch wenn mancher das anders sah.
Mein Bruder nahm zunehmend weniger an Familienfeiern teil, sodass sein Problem nicht mehr so offensichtlich war. Dann sein erster Autounfall unter Alkohol, nichts Schlimmes, aber Polizei, Blutprobe (1,3 Promille), Führerscheinentzug mit polizeilicher Auflage, eine Verkehrsteilnehmerschulung beim TÜV zu machen.
Dieses Mal gab es ein Gespräch zwischen uns, in dem ich ihn ernst nahm, nicht der erfahrene ältere Bruder war, der ihm sagt, wie er sein Leben leben soll. Nein, ich bot ihm an: „Wann immer du es willst und für richtig hältst, kannst du zu mir und/oder in die Gruppe kommen.“ Damit ging es uns beiden besser als bei den vorherigen Versuchen, etwas zu ändern. Es brauchte jedoch erst noch einen Unfall, bis mein Bruder mich selber um Hilfe bat.
Womit wir wieder am Anfang meiner Geschichte angelangt sind. Wie eingangs beschrieben, fuhr ich am Sonntag zu meinem Bruder, um mit ihm und seiner Partnerin alles zu besprechen. Wir saßen zusammen und redeten über alles, wie schwer es den beiden fällt, mit dieser Situation umzugehen, und vieles mehr. Viele Tränen flossen.
Ich machte ihnen Mut, dass es schon viele vor ihnen geschafft haben und noch viele nach ihnen schaffen werden. Nahm ihnen die Angst vor der Gruppe. Alles war besprochen, ich fuhr mit einem guten Gefühl nach Hause.
Montagabend, 19 Uhr zur Gruppenstunde, wie verabredet, mein Bruder und seine Partnerin waren gekommen. Nachdem alle anderen von sich erzählt hatten, konnten auch die beiden sich öffnen und sie erzählten dem Rest der Gruppe ihre Geschichte. Bei der abschließenden Blitzrunde stellte sich heraus, dass es unseren beiden (Neuen) gut tat, sich unter Gleichgesinnten aussprechen zu können. Ich war erleichtert.
So ging es für ca. ein halbes Jahr ganz gut. Bis ich merkte, dass wiederum unsere emotionale Nähe dazu beitrug, dass sich mein Bruder immer mehr verschloss. Da kam uns der Zufall zu Hilfe. Zu diesem Zeitpunkt war unsere Gruppe schon sehr groß geworden (über 30 Personen), so dass eine Teilung schon lange überfällig war. Das Problem der Gruppenteilung wurde in der Gruppe thematisiert und innerhalb der nächsten vier Wochen auch realisiert.
Mein Bruder ging mit seiner Partnerin von nun an nicht mehr montags in die Gruppe, wo ich war, sondern dienstags. Und siehe da, dort konnte er sich wieder öffnen und auch unser privates Verhältnis war wieder vertraut und von Offenheit geprägt.
Später erzählte er mir dann, er habe immer Angst vor meiner Erfahrung und dann auch noch in der Rolle des Gruppenleiters gehabt. Viel schlimmer empfand ich seine Angst, ich könnte, bei Nachfragen unserer Eltern, Dinge Preis geben, die dem Gruppengeheimnis unterliegen.
Im Nachhinein kann ich diese Angst gut verstehen, denn selbstverständlich kamen diese Fragen unserer Eltern, jedoch war die ausführlichste Antwort meinerseits darauf: „Ihr müsst Euch keine Gedanken machen, es ist alles ok.“
Frank Hübner
Vorsitzender des Kreuzbund-Diözesanverbandes Erfurt
Quelle: Ausgabe 5/2006 des WEGGEFÄHRTE, der bundesweiten Verbandszeitschrift des Kreuzbundes
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Text: Frank HübnerIn: Pfarrbriefservice.de